Schweiz – Goodwill-Entschädigung bei Beendigung eines Vertriebsvertrags

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Kurzzusammenfassung Nach schweizerischem Recht kann ein Vertriebshändler nach Beendigung eines Vertriebsvertrags Anspruch auf eine Entschädigung für den Goodwill haben. Das Schweizerische Bundesgericht hat entschieden, dass das Schweizerische Obligationenrecht, das Handelsvertretern bei Beendigung des Vertretungsverhältnisses einen unabdingbaren Anspruch auf eine Entschädigung für akquirierte Kunden einräumt, unter bestimmten Umständen analog auf Vertriebsverhältnisse angewendet werden kann.


In der Schweiz handelt es sich bei Vertriebsverträgen um Innominatverträge, d.h. um Verträge, die nicht speziell im Schweizerischen Obligationenrecht („OR“) geregelt sind. Für Vertriebsverträge gelten in erster Linie die allgemeinen Bestimmungen des schweizerischen Vertragsrechts. Darüber hinaus können gewisse Bestimmungen des schweizerischen Agenturrechts (Art. 418a ff. OR) analog auf Vertriebsverhältnisse angewendet werden.

Insbesondere im Hinblick auf die Folgen der Beendigung eines Vertriebsvertrages hat das Bundesgericht in einem Leitfall aus dem Jahr 2008 (BGE 134 III 497) betreffend eines Alleinvertriebsvertrags entschieden, dass Art. 418u OR analog auf Vertriebsverträge angewendet werden kann. Art. 418u OR gibt dem Handelsvertreter bei Beendigung des Vertretungsverhältnisses Anspruch auf eine Goodwill-Abgeltung (manchmal auch als „Kundschaftsentschädigung“ bezeichnet). Der Goodwill-Ausgleich dient dazu, den Handelsvertreter dafür zu entschädigen, dass er bei Beendigung des Handelsvertreterverhältnisses seinen Kundenstamm an den Unternehmer „abgibt“.

Die Beurteilung, ob ein Vertriebspartner Anspruch auf eine Goodwill-Entschädigung hat, erfolgt in zwei Schritten: In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die vom Bundesgericht aufgestellten Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von Art. 418u OR auf die fragliche Vertriebsbeziehung erfüllt sind. Ist dies der Fall, so ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob alle Voraussetzungen für eine Goodwill-Entschädigung nach Art. 418u OR erfüllt sind.

Analoge Anwendung von Artikel 418u OR auf den Vertriebsvertrag

Eine analoge Anwendung von Artikel 418u OR auf Vertriebsvereinbarungen setzt voraus, dass der Händler weitgehend in die Vertriebsorganisation des Lieferanten integriert ist. Aufgrund dieser starken Integration müssen sich die Vertriebshändler in einer vermittlerähnlichen Position befinden und verfügen nur über eine begrenzte wirtschaftliche Autonomie.

Die folgenden Kriterien weisen auf eine starke Integration in die Vertriebsorganisation des Lieferanten hin:

  • Der Händler muss die Mindestabnahmeverpflichtungen einhalten.
  • Der Lieferant hat das Recht, Preise und Lieferbedingungen einseitig zu ändern.
  • Der Lieferant hat das Recht, die Herstellung und den Vertrieb der unter die Vereinbarung fallenden Produkte einseitig einzustellen.
  • Der Händler muss die Mindestverpflichtungen für Marketingausgaben einhalten.
  • Der Händler ist verpflichtet, einen Mindestbestand an Vertragsprodukten zu halten.
  • Der Vertriebsvertrag erlegt dem Händler regelmäßige Berichtspflichten (z. B. über erzielte Umsätze und Aktivitäten der Wettbewerber) auf.
  • Der Lieferant ist berechtigt, die Bücher des Händlers zu prüfen und Audits durchzuführen.
  • Dem Händler ist es untersagt, die Produkte nach Beendigung des Vertriebsverhältnisses weiter zu vertreiben.

Je mehr dieser Elemente in einer Vertriebsvereinbarung vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Artikel 418u OR analog auf die betreffende Vertriebsbeziehung angewendet werden kann. Sind jedoch keine oder nur wenige dieser Elemente vorhanden, ist Artikel 418u OR höchstwahrscheinlich nicht anwendbar und es wird keine Entschädigung für den Goodwill fällig.

Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Goodwill-Entschädigung

Falls eine analoge Anwendung von Artikel 418u OR bejaht werden kann, wird die Prüfung fortgesetzt. Es ist dann zu prüfen, ob alle in Artikel 418u OR genannten Voraussetzungen für eine Goodwill-Entschädigung erfüllt sind. In dieser zweiten Phase ähnelt die Prüfung derjenigen, die für „normale“ Handelsvertreterverhältnisse durchzuführen ist.

In analoger Anwendung auf Vertriebsverhältnisse gibt Artikel 418u OR den Händlern Anspruch auf eine Entschädigung für den Goodwill, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Erhebliche Erweiterung des Kundenstamms durch den Vertrieb

Erstens müssen die Tätigkeiten des Vertriebshändlers zu einer „erheblichen Erweiterung“ des Kundenstamms des Lieferanten geführt haben. Die Aktivitäten des Vertriebshändlers können nicht nur die Ansprache bestimmter Kunden, sondern auch den Aufbau einer neuen Marke des Anbieters umfassen.

Aufgrund der begrenzten Rechtsprechung des Schweizerischen Obersten Gerichtshofs besteht Rechtsunsicherheit darüber, was unter „erheblicher Expansion“ zu verstehen ist. Zwei Elemente scheinen vorherrschend zu sein: Zum einen die absolute Anzahl der Kunden und zum anderen der mit diesen Kunden erzielte Umsatz. Der zu Beginn der Vertriebsbeziehung bestehende Kundenstamm muss mit dem Kundenstamm bei Beendigung der Vereinbarung verglichen werden. Die Differenz muss positiv sein.

  • Der Lieferant muss weiterhin vom Kundenstamm profitieren

Zweitens müssen dem Lieferanten auch nach Beendigung der Vertriebsbeziehung erhebliche Vorteile aus den Geschäftsbeziehungen mit den vom Händler gewonnenen Kunden erwachsen. Diese zweite Anforderung umfasst zwei wichtige Aspekte:

Erstens muss der Anbieter Zugang zum Kundenstamm haben, d. h. er muss wissen, wer die Kunden sind. In Vertretungsverhältnissen ist dies in der Regel kein Problem, da die Verträge zwischen den Kunden und dem Auftraggeber geschlossen werden, der somit die Identität der Kunden kennt. In Vertriebsbeziehungen hingegen erfordert die Kenntnis des Lieferanten über die Identität der Kunden regelmäßig eine Offenlegung der Kundenlisten durch den Vertriebshändler, sei es während oder am Ende der Vertriebsbeziehung.

Zweitens muss eine gewisse Loyalität der Kunden gegenüber dem Lieferanten bestehen, damit der Lieferant mit diesen Kunden auch nach Beendigung der Vertriebsbeziehung weiter Geschäfte machen kann. Dies ist z. B. der Fall, wenn Einzelhändler, die von einem ehemaligen Großhändler akquiriert wurden, nach Beendigung der Beziehung zum Großhändler weiterhin Produkte direkt beim Lieferanten kaufen. Darüber hinaus kann ein Anbieter auch weiterhin von den durch den Vertriebshändler gewonnenen Kunden profitieren, wenn er ein profitables After-Sales-Geschäft betreiben kann, z. B. durch die Lieferung von Verbrauchsmaterialien, Ersatzteilen und die Erbringung von Wartungs- und Reparaturdienstleistungen.

Die schweizerische Rechtsprechung unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Arten von Kunden: Persönliche Kunden und echte Kunden. Erstere sind aufgrund eines besonderen Vertrauensverhältnisses mit dem Händler verbunden und bleiben in der Regel auch nach Beendigung der Vertriebsbeziehung beim Händler. Letztere sind an eine Marke oder ein Produkt gebunden und folgen normalerweise dem Lieferanten. Im Prinzip können nur echte Kunden eine Entschädigung aus Kulanz begründen.

Die Entwicklung des Umsatzes des Lieferanten nach Beendigung einer Vertriebsbeziehung kann als Hinweis auf die Loyalität der Kunden dienen. Ein starker Umsatzrückgang und die Notwendigkeit des Lieferanten (oder des neuen Vertriebshändlers), neue Kunden zu akquirieren oder frühere Kunden zurückzugewinnen, deuten darauf hin, dass die Kunden nicht loyal sind, so dass keine Entschädigung aus Kulanz fällig wäre.

  • Angemessenheit der Entschädigung für den Geschäftswert

Drittens darf eine Entschädigung für den Firmenwert nicht unbillig sein. Die folgenden Umstände könnten eine Goodwill-Entschädigung unbillig machen:

  • Der Händler konnte eine außerordentlich hohe Marge erzielen oder erhielt weitere Vergütungen, die eine ausreichende Gegenleistung für den an den Lieferanten weitergegebenen Kundenwert darstellen.
  • Die Vertriebsbeziehung bestand über einen langen Zeitraum, so dass der Händler bereits reichlich Gelegenheit hatte, von den gewonnenen Kunden wirtschaftlich zu profitieren.
  • Als Gegenleistung für die Einhaltung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots erhält der Vertriebshändler eine besondere Entschädigung.

In jedem Fall verfügen die Gerichte über einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Entscheidung, ob eine Entschädigung für den Geschäftswert angemessen ist.

  • Beendigung nicht durch Händler verursacht

Viertens darf die Vertriebsbeziehung nicht aus einem Grund beendet worden sein, den der Händler zu vertreten hat.

Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Lieferant den Vertriebsvertrag aus einem dem Händler zuzurechnenden Grund gekündigt hat, z. B. bei Verletzung vertraglicher Pflichten oder unzureichender Leistung des Händlers.

Darüber hinaus wird keine Entschädigung für den Firmenwert fällig, wenn der Händler die Vertriebsvereinbarung selbst gekündigt hat, es sei denn, die Kündigung ist durch Gründe gerechtfertigt, die der Lieferant zu vertreten hat (z. B. eine Verletzung der dem Händler vom Lieferanten gewährten Ausschließlichkeit).

Eine Firmenwertabfindung kann nicht nur dann fällig werden, wenn ein unbefristeter Vertriebsvertrag durch Kündigung endet, sondern auch bei Auslaufen bzw. Nichtverlängerung eines befristeten Vertriebsverhältnisses.

Umfang einer Entschädigung für den Geschäftswert

Ist Artikel 418u OR auf ein Vertriebsverhältnis analog anwendbar und sind alle oben genannten Voraussetzungen für eine Goodwill-Abgeltung erfüllt, so kann die Abgeltung an den Vertriebsträger bis zum Jahresnettoertrag des Vertriebsträgers aus dem Vertriebsverhältnis, berechnet als Durchschnittsertrag der letzten fünf Jahre, betragen. Bei kürzerer Dauer des Vertriebsverhältnisses sind die durchschnittlichen Erträge während der gesamten Dauer des Vertriebsverhältnisses maßgebend.

Zur Berechnung des Jahresnettogewinns muss der Vertriebshändler von den durch die Vertriebsbeziehung erzielten Einkünften (z. B. Bruttomarge, weitere Vergütungen usw.) alle mit seiner Tätigkeit verbundenen Kosten abziehen (z. B. Marketingausgaben, Reisekosten, Gehälter, Mietkosten usw.). Ein verlustbringendes Unternehmen kann keinen Anspruch auf eine Entschädigung für den Geschäftswert begründen.

Wenn ein Händler Produkte von verschiedenen Lieferanten vertreibt, muss er den jährlichen Nettogewinn produktspezifisch berechnen, d. h. auf die Produkte des jeweiligen Lieferanten beschränkt. Der Händler kann eine Goodwill-Abfindung nicht auf der Grundlage seines gesamten Geschäfts berechnen. Fixkosten müssen anteilig zugerechnet werden, soweit sie nicht einer bestimmten Vertriebsbeziehung zugeordnet werden können.

Zwingender Charakter des Anspruchs auf eine Goodwill-Entschädigung

Lieferanten versuchen regelmässig, Goodwill-Entschädigungen in Vertriebsverträgen auszuschliessen. Wenn jedoch eine analoge Anwendung von Artikel 418u OR auf den Vertriebsvertrag gerechtfertigt ist und alle Voraussetzungen für eine Goodwill-Entschädigung erfüllt sind, ist der Anspruch zwingend und kann nicht im Voraus vertraglich ausgeschlossen werden. Eine solche Regelung wäre nichtig.

Dennoch bleiben spezifische Bestimmungen in Vertriebsvereinbarungen, die sich mit einer Entschädigung für den Firmenwert befassen, wie z. B. Vertragsbestimmungen, die regeln, wie der Lieferant den Vertriebshändler für gewonnene Kunden entschädigen soll, weiterhin relevant. Solche Vorschriften könnten einen Anspruch auf eine Goodwill-Entschädigung unbillig machen.

Renato Bucher
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